Zukunft ist …
TEXT Michael Carl FOTO 2b Ahead ThinkTank / Joshua Sortino
Die Vision hat einen schlechten Leumund. Zweitrangig im Vergleich zu harten Fakten, klarer Analyse, belastbaren Zahlen. Die Vision ist schwer greifbar, schlecht mit buchhalterischer Präzision und Nüchternheit abprüfbar, ihr haftet etwas Unbestimmtes an. Sie steht nicht für Testverfahren im Labor zur Verfügung, taugt für keine TÜV-Plakette. Dennoch: Aus Sicht des Zukunftsforschers sind Visionen zentral. Gerade sie sind der Schlüssel zum Verständnis der Lebens- und Arbeitswelten der kommenden Jahre. Tätige Unternehmer werden ihre Visionen realisieren und damit Wirklichkeit schaffen. Wer keine Visionen hat, wird nicht das nächste iPhone entwickeln. Noch schwerer wiegt: Wer keine Visionen entwickelt, diskutiert, bewertet, den wird die Ankunft des iPhones unvorbereitet treffen. Dann heißt es: Zurück zur Gummistiefelproduktion – oder gleich schließen. Rückfragen bitte an Nokia oder die Handy-Sparte von Siemens.
In seinen Vorträgen und zahlreichen Veröffentlichungen begeistert er Menschen und Unternehmen für die Zukunft. Als „Futurist in Residence“ arbeitet er mit dem Team des 2b AHEAD ThinkTanks, Europas größtem unabhängigen Zukunftsforschungsinstitut mit Sitz in Leipzig. Seine Prognose: Die technologischen Sprünge der kommenden Jahre werden uns zu einem völlig neuen Bild davon führen, was es heißt, Mensch zu sein: als Mitarbeiter oder Führungskraft, als Kunde oder Anbieter, in Familie und Gesellschaft. Michael Carl zielt mit seiner Arbeit darauf, Menschen zu aktivieren, diese Zukunft selbst zu gestalten.
Was dürfen wir erwarten? Systeme künstlicher Intelligenz entfalten Sprung für Sprung ihre Leistungsfähigkeit. Immer größere Datenmengen sind das Futter für immer leistungsstärkere Algorithmen. Neu ist, dass wir diesen Systemen auf Schritt und Tritt im Alltag begegnen werden. Der persönliche Finanzassistent, der gelernt hat, wie ich meine finanziellen Angelegenheiten geregelt haben möchte, und im Hintergrund längst die Federführung übernommen hat. Der Mobilitätsassistent, der für meinen Wochenendtrip schlichtweg alle 450 Hotels in München kontaktiert und die Angebote und Konditionen im Detail verhandelt und nachverhandelt, bis eines perfekt passt. Ich finde nur das Hotel „meiner“ Wahl in meinem Kalender und weiß vorher, warum es mir gefallen wird.
Booking.com ist gemeinsam mit allen Reiseportalen der 2010er Jahre längst vom Markt. Wir haben guten Grund zu der Annahme, dass schon im kommenden Jahrzehnt die ersten Quantencomputer zur kommerziellen Anwendung bereitstehen werden. Im wahrsten Sinne ein Quantensprung, nicht einfach ein etwas schnellerer Rechner. Betrachten wir jedes Passwort als immer schon geknackt. Wir werden ein neues Verständnis von Sicherheit entwickeln müssen. Damit geht einher, wie sich unser Bild von Daten ändert. Die statischen Echtzeit-Daten von heute werden in ihrer Relevanz abgelöst von der Prognose und Analyse zukünftiger emotionaler Daten. Dahinter steht ein ebenso naheliegendes wie verbreitetes Missverständnis: Digitalisierung beginnt nicht mit der Anschaffung neuer IT. Wer seinen Außendienst mit iPads ausstattet, hat noch keinen Schritt zur Digitalisierung des Verkaufsteams getan. Wer Laptops in einer Schulklasse verteilt, hat noch keine digitale Bildung realisiert, genauso wenig wie eine Computerkasse allein Bezahlvorgänge digital macht. Digitalisierung beginnt dort, wo Effekte messbar werden: Emotion, Begeisterung, aber auch der ganz praktische Nutzen für einen individuellen Kunden. Ganz untechnisch formuliert: Digitalisierung erlaubt es Anbietern, in Echtzeit zu wissen, was ein Kunde benötigt und wie er das Produkt des Anbieters einsetzt.
Dies ist der Anfang. Schritt zwei baut darauf auf: Wer die Bedürfnisse und das Verhalten individueller Kunden in Echtzeit erkennen kann, wird lernen, diese auch zu prognostizieren. Schneller als Echtzeit ist der Anspruch, dem sich Anbieter unterschiedlichster Branchen in den kommenden Jahren werden stellen müssen.
Zukunftsforscher Michael Carl
„Digitalisierung beginnt dort,
wo Effekte
messbar werden.“
Auch dies ist allerdings nur ein vorbereitender Schritt, der hinführt zur Königsdisziplin der Digitalisierung:
Die Adaptivität von Produkten. Denn wer würde einem Kunden Produkte von der Stange verkaufen wollen, wenn er die genauen Bedürfnisse von heute schon kennt und die wahrscheinlichen von morgen schon präzise beschreiben kann? Oder, um es etwas härter zu formulieren: Wer würde ernsthaft annehmen, mit Durchschnittsprodukten noch wettbewerbsfähig sein zu können, wenn der Wettbewerber die künftigen Kundenbedürfnisse präzise adressieren kann?
Dieser Wandel zu einem Predictive Enterprise wird für die Unternehmen nahezu jeder Branche zur eigentlichen Herausforderung im Zuge der digitalen Transformation. Die Produktentwicklung so zu flexibilisieren, dass die Produkte und Services die prognostizierten Bedürfnisse massenhaft individualisierter Kunden aufnehmen. Eine Entwicklung, die im Laufe der 2020er Jahre letztlich in jeder Branche zu beobachten sein wird. Der Lebensmittelproduzent, der lernt, seine Produkte auf den genetischen Code einzelner Menschen abzustimmen. Der Pharmahersteller, dessen Produkte ihre Wirkkraft auf den wechselnden Gesundheitszustand einzelner Patienten abstimmen können. Der Maschinenbauer, dessen Anlagen nicht nur hoch spezifisch ausgelegt sind, sondern zugleich auch noch die Aufmerksamkeit der sie bedienenden Facharbeiter messen. In den kommenden Jahren werden sich hier Maßstäbe verschieben. Je häufiger ich als Kunde erlebe, dass einzelne Anbieter in der Lage sind, meine Bedürfnisse zu erkennen und zu berücksichtigen, desto eher werde ich es vom nächsten Anbieter ebenfalls erwarten. Zunächst vom Wettbewerber, dann auch in anderen Branchen und Industrien. Damit rückt die Kommunikation mit dem Kunden an den Anfang der Produktentwicklung. Die traditionelle Abfolge Entwicklung – Produktion – Marketing – Vertrieb – Kundenservice kehrt sich um.
Erwarten Sie also bitte nicht nur schnellere Handys. Die werden Sie möglicherweise auch haben. Der eigentlich tiefgreifende Wandel aber wird sich in der Kommunikation vollziehen. Menschen werden anders miteinander umgehen. Sie werden erwarten, dass ihr Gegenüber – ob Mensch, Kollege, Unternehmen – anders mit ihnen umgeht. Am praktischen Beispiel: Schon heute liefert mir eine kostenlose App durch Sprachanalyse eine automatische Auswertung des momentanen emotionalen Zustands meines Gegenübers. Setze ich das ohne Wissen meines Partners ein, um herauszufinden, wie groß der Strauß zum Valentinstag in diesem Jahr ausfallen sollte, ist dies nach allen herkömmlichen Maßstäben übergriffig und unmenschlich. Im großen Maßstab grüßt der Überwachungsstaat. Unsere Analysen zeigen allerdings ein anderes Bild: Sobald sich die emotionale Analyse künstlicher Intelligenz regelmäßig als besser erweist, werden Menschen lernen, der Technologie zu vertrauen. Sie werden den Einsatz solcher Technologien verlangen, um bestmöglich verstanden zu werden. In dieser Perspektive macht künstliche Intelligenz unsere Kommunikation geradezu menschlicher.
Ein kurzer Zwischenruf für die Datenschutzbeauftragten von heute und morgen:
Datenschutz wird im kommenden Jahrzehnt etwas grundlegend anderes meinen als heute. Der jüngst erreichte europäische Standard dürfte die vorerst letzte Ausprägung des klassischen Datenschutzes gewesen sein. Datenschutz der Zukunft wird Daten und den Austausch von Daten nicht vermeiden, sondern die gezielte Freigabe auch größter Datenmengen gerade erst ermöglichen. Datenschutz wird damit endgültig zu einer Transparenzanforderung. Nur wer seinem Gegenüber vermitteln kann, wie er die Daten seines potenziellen Kunden aufzunehmen gedenkt, ermöglicht eine vertrauensvolle Kommunikation. Nur wer zeigen kann, wie er auf Grundlage dieser Daten einen spürbaren Mehrwert für den Einzelnen erzeugen will, nur dem wird der Nutzer der Zukunft Zugriff auf seine Daten gewähren, vielfach räumlich und zeitlich beschränkt und selbstverständlich rückholbar.
Seit etlichen Wochen werde ich bei jedem Vortrag, bei jedem Workshop auf China angesprochen, auf den Citizen Score und den Versuch des Staates, das Wohlverhalten seiner Bürger möglichst umfassend und automatisiert zu überwachen. Die Frage, die mir meist gestellt wird: Muss man das nicht dringend verhindern? Ohne Zweifel eine lohnende Frage, allerdings nicht die Frage der Zukunftsforschung. Die Fragen des Zukunftsforschers sind eher: Was ist der übernächste Schritt, der durch diese Technologie eröffnet wird? Wenn unsere Welt in den kommenden zehn Jahren um ein Vielfaches intelligenter wird, wenn diese Intelligenz die Labore und Entwicklungszentren verlässt und im Alltag der Gesellschaft erlebbar wird, welche Auswirkungen hat dies auf die Kommunikation der Menschen? Welche auf Kundendialoge, auf Geschäftsmodelle und Produktentwicklungen, auf Qualifikation, Organisation und persönliche Entwicklung? Was treibt uns dann an?
Wer vorschnell ein moralisches Urteil fällt, demzufolge nicht werden kann, was nicht werden darf, nimmt sich die Möglichkeit, sich den Chancen einer Technologie differenziert zu nähern. Letztlich nehmen wir uns so die Möglichkeit, unsere eigene Zukunft mitzugestalten. Gestatten wir uns ein Stück mehr Vision und gestalten unsere Zukunft damit aktiv und selbstbewusst.